01.04.2025 – Wissenschaft & Forschung

Verlauf und Begleiterkrankungen bei MS – auch eine Frage des Geschlechts

BERLIN (Biermann) – Eine aktuelle Übersichtsarbeit hat das Wissen zum Einfluss des Geschlechts auf Verlauf und Begleiterkrankungen bei MS zusammengetragen.1
Verlauf und Begleiterkrankungen bei MS – auch eine Frage des Geschlechts

Geschlechtsspezifische Unterschiede bei MS

Frauen sind doppelt so oft von Multipler Sklerose betroffen wie Männer, während die Erkrankung selbst bei Männern häufiger schwerer zu verlaufen scheint. Diese Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass das Geschlecht beziehungsweise die entsprechenden Hormone bei der MS eine wichtige Rolle spielen. Wissenschaftlerinnen der Charité – Universitätsmedizin Berlin haben nun die bislang vorliegenden Erkenntnisse zu geschlechtsspezifischen Aspekten hinsichtlich Krankheitsverlauf, Kognition und psychischen Begleiterscheinungen bei MS zusammengefasst.1

Neuroinflammation und Neurodegeneration

Für die Autoimmunerkrankung MS sind zwei Prozesse charakteristisch, die sich im zentralen Nervensystem (ZNS) abspielen: Immunreaktionen (Neuroinflammation) und das Absterben von Nervenzellen (Neurodegeneration). Eine wichtige Rolle für die bei MS feststellbare Entzündungsaktivität spielt das Östrogen 17ß-Östradiol (E2). E2 ist das biologisch aktive Hormon, das bei Frauen vorwiegend in den Eierstöcken, beim Mann in den Hoden und der Nebennierenrinde gebildet wird. Es wird aber auch von Gehirnzellen, einschließlich der Immunzellen des ZNS, den sogenannten Mikroglia, produziert. In experimentellen Studien konnte gezeigt werden, dass die Verabreichung von E2 die Aktivität der Immunzellen im Gehirn hemmt, also antientzündlich wirkt.1 Es wäre also naheliegend, dass Frauen, die höhere Mengen an E2 produzieren, von diesem Hormon vor Neuroinflammation und -degeneration geschützt werden. Dem widersprechen allerdings Studienergebnisse, die zeigen, dass Frauen bei MS eine deutlich höhere jährliche Schubrate haben als Männer – zumindest bis zum Alter von etwa 50 Jahren. Darüber hinaus sind bei Frauen mehr entzündliche Läsionen festzustellen als bei Männern. Und bei Männern weisen wiederum diejenigen mit höheren E2-Werten eine höhere Anzahl von Hirnläsionen auf.1

Da höhere E2-Spiegel also mit stärkerer Entzündungsaktivität einherzugehen scheinen, würde man erwarten, dass dies auch zu einer stärkeren Neurodegeneration im Gehirn und damit zu einer stärkeren körperlichen und kognitiven Beeinträchtigung führt. Tatsächlich fanden Forschende aber bei Männern mit MS eine stärkere regionale Abnahme der grauen Hirnsubstanz, die die Zellkörper der Neurone beherbergt, und stärkere Einschränkungen in den oberen Extremitäten als bei Frauen mit MS.1 Eine mögliche Erklärung für die bislang widersprüchlichen Forschungsergebnisse zur schützenden Wirkung dieser Hormone bei MS könnte sein, dass die Spiegel der Geschlechtshormone und damit auch von E2 während des Menstruationszyklus und insbesondere während der Schwangerschaft deutlich schwanken, wobei die meisten Studien über einen neutralen oder positiven Effekt der Schwangerschaft auf die Zahl der Schübe und die Zunahme von Behinderung berichten.1

Die Autorinnen des Reviewbeitrags schlussfolgern aus all diesen Beobachtungen, dass die Neuroinflammation bei Frauen möglicherweise von Natur aus höher ist, dass aber Nervenschäden bei Frauen besser abgefedert werden – möglicherweise mithilfe von E2.1

Kognitive Beeinträchtigungen

Zu den frühesten und am stärksten beeinträchtigenden Symptomen der MS zählen kognitive Beeinträchtigungen, die etwa 40 bis 65 Prozent der Patienten betreffen. Ihre Auswirkungen sind weitreichend und schränken die Betroffenen in ihrem beruflichen und privaten Alltag ein. Jüngste Erkenntnisse zeigen darüber hinaus, dass auch körperliche Beeinträchtigungen bei frühem Auftreten kognitiver Einschränkungen schneller voranschreiten.1

Studien, in denen geschlechtsspezifische Auswirkungen von MS auf neuropsychologische Ergebnisse untersucht wurden, haben uneinheitliche Ergebnisse erbracht. So berichten mehrere Studien und eine Metaanalyse, dass bei kognitiven Tests keine Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen MS Betroffenen bestehen. Andere Studien fanden bei Frauen mit MS bessere Ergebnisse im verbalen Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit. In wieder anderen Untersuchungen schnitten Männer mit MS in Tests zur Informationsverarbeitung und anhaltenden und geteilten Aufmerksamkeit besser ab, erzielten aber schlechtere visuell-räumliche Gedächtnisleistungen.1

Insgesamt weisen die Autorinnen darauf hin, dass neben dem Geschlecht vor allem demografische Variablen wie Alter oder Bildung großen Einfluss auf die Ergebnisse von Tests haben, mit denen die kognitive Leistungsfähigkeit bei MS überprüft wird. Sie empfehlen daher, bei der kognitiven Untersuchung von MS-Patienten geschlechts-, alters- und bildungsangepasste Tests zu verwenden.1
 

Neuropsychiatrische Begleiterkrankungen

Neben kognitiven Einschränkungen nehmen auch psychiatrische Begleiterkrankungen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität von Menschen mit MS. Vor allem Depressionen sind häufig und treten bei bis zu einem Drittel der MS-Betroffenen auf. Damit sind sie bei Menschen mit MS drei- bis fünfmal verbreiteter als in der Allgemeinbevölkerung.1 Dies ist den Autorinnen zufolge von großer Bedeutung, da Depressionen bei MS mit Behinderungsprogression, schlechten kognitiven Leistungen und einem progredienten Krankheitsverlauf in Verbindung gebracht werden.1

Depressionen sind bei Frauen (mit und ohne MS) deutlich häufiger als bei Männern: ein Unterschied, der in der Pubertät beginnt, bis ins Erwachsenenalter anhält und sich erst ab einem Alter von 50 Jahren ausgleicht. Darüber hinaus neigen Frauen mit Depressionen zu schwereren Symptomen als Männer.1
 

Frühzeitige Diagnose wichtiger als geschlechtsspezifische Unterschiede

Auch wenn bislang nicht vollständig geklärt ist, wie das biologische Geschlecht den Krankheitsverlauf, die Symptomschwere und das Ansprechen auf die Behandlung bei MS-Patienten beeinflusst, sei es dennoch wichtig, bei Diagnose und Therapieauswahl mögliche Geschlechtsunterschiede zu berücksichtigen, betonen die Autorinnen. Noch wichtiger für die Behandlung der MS und die Vorbeugung von belastenden Komorbiditäten seien aber ein rechtzeitiges Screening und eine frühzeitige Diagnose.1

Quellen:

1 Brasanac J et al. A review of sex differences in neurodegeneration and psychological comorbidities in MS and related disorders. Neurodegener Dis 2025 Feb 19:1–25.